"Something in the way he moves"
Sarah, Vincent et moi von Raimund Hoghe in Brüssel uraufgeführt
Katja Schneider
tanzdrama Nr. 63, 2002

Mit ruhigen Bewegungen spannt Raimund Hoghe einen chinesischen Schirm auf. Er hält ihn über sich und die Tänzerin Sarah Chase. Langsam geleitet er sie auf das Publikum zu. Je näher sie kommen, desto dunkler wird ihre Gestalt, desto weniger sind die beiden zu erkennen. Schließlich stehen sie vor dem freien Platz in der ersten Reihe der Kaaitheaterstudios, verharren dort, bevor sich Sarah Chase wieder auf den Stuhl setzt, von dem sie sich eine dreiviertel Stunde zuvor erhoben hat. Hoghe bleibt mit seinem Blick im Dunklen allein, bevor er in den Bühnenraum zurückkehrt. Der Schirm, nun bedeutend tiefer gehalten, glänzt auf einmal. Hoghe klappt ihn zusammen, legt ihn zur Seite und beginnt mit seinen Armen die schwarz verhängte Bühne zu umspannen. Schließlich wird daraus ein Walzer, den er allein tanzt.
Der Künstler Raimund Hoghe ist "moi" in seinem Stück Sarah, Vincent et moi. Er tritt nach seinen letzten beiden Solostücken Lettere amorose und Another Dream hier als jenes Ich auf, das den beiden anderen - der Kanadierin Sarah Chase und dem Franzosen Vincent Dunoyer - den Raum bereitet. Er tritt mit ihnen in vielfältige Beziehungen, sieht und hört ihnen zu. Hoghe ist die Achsenfigur, die zunächst allein ihren ernsthaften Verrichtungen nachgeht. Es sind weniger Gegenstände als sonst, die Hoghe dabei ins Spiel bringt: Mit einem Teelicht und einem Miniaturlüster beschwört er die Sehnsucht nach dem großen Glanz. Weißer Sand, den er verstreut, markiert ein Bewegungsfeld, leuchtet, wird zusammengefegt, um neu verteilt zu werden. Ein Foto als Zeichen von Absenz und Erinnerung. Nach diesem ruhigen Beginn folgt das Duett mit Sarah Chase, nach dem Hoghe den Raum neu schafft für Vincent Dunoyer, der - "Now we can begin again" - seinen Part mit dem Rücken zum Publikum beginnt.
Hoghe ist die Identifikationsfigur für das Publikum, das sehen möchte, was er sehen könnte, wenn er dicht vor Sarah Chase steht und mit seiner Jacke ihren Unterkörper bedeckt, solange sie sich umzieht. Wenn er sich hinkniet oder hinlegt und seinen nackten Oberkörper in eine wellige Körperlandschaft transformiert, dann tut er es stets in doppelter Ausrichtung: Zum einen orientiert er sich selbst auf den Körper des anderen Mannes, der Frau, zum anderen bündelt er die Blicke des Publikums und strahlt sie weiter auf seine Partner. Der Blick, das Sehen, ist ein zentrales Thema in diesem großartigen, von Hoghe zusammen mit Chase und Dunoyer und seinem ständigen Mitarbeiter Luca Giacomo Schulte enstandenen zweieinhalbstündigen Stück. Der Blick ist hier verschoben, so, wie Hoghe zu Anfang eine Lupe nicht vor sein Gesicht, sondern neben seinen Kopf hält, durch die möglicherweise der Zuschauer einen Blick erhaschen kann, unmöglich der Akteur selbst. Der bewegt sie dann später wie eine Wünschelrute vor dem Körper, als erkenne er auf andere, indirekte Weise, als materialisierten sich die später hinzukommende Frau und der sie dann ablösende Mann in Hoghes persönlicher Welt. Als könnte man durch ihn, durch seinen Körper, an ihnen und ihren Aktionen teilhaben. Um Hoghe kommt man nicht herum. Souverän webt er an einem Netz vielfältiger Bezüge, ist kleiner Bruder, Elternteil, Partner, Begehrender, Begehrter. Sarah Chase umsorgt er, bringt im schlingernden Lauf die Sandaletten, und ist in der nächsten Szene "Bond, James Bond", wenn er gegen sie - "bang, bang" - den imaginären Revolver richtet. Mit Dunoyer liegt er face à face wie auf der Luftmatratze; sie grinsen sich an, rennen umeinander herum, oder Hoghe beobachtet den manierierten Laufsteggang Dunoyers. Seine Beziehung zu Sarah Chase scheint ruhiger, unaufgeregter, die zu Vincent Dunoyer spielerischer. Durchgängiges Motiv in beiden Begegnungen ist der Moment des Betrachtens, aus der Ruhe auf einen bewegten Körper.
Hoghe verschränkt auf hochkomplexe Weise Wiederholungen, Variationen und Spiegelungen, tut das mit der Gestaltung der Bewegungen, des Raums, des Lichts, der Musikdramaturgie und der Zeit. Nichts wirkt hier dem Zufall überlassen oder nicht ganz durchdacht. Klarer noch als in früheren Stücken spannt sich der Bogen vom Anfang bis zum Schluß, verstärkt durch Schwanensee-Einspielungen, die - neben Tangos, Songs von Peggy Lee und Dalida, Maria Callas und Mina, Bobby Gentry und Gigliola Cinquetti - leitmotivisch das Werk durchziehen (in Dialogue with Charlotte hatte Hoghe Pjotr Tschaikowskis Komposition schon einmal aufgerufen). Das große Pathos des Ballettklassikers markiert Anfang und Ende und ruft ein weiteres großes Thema auf, in das der Blick, der Körper, die Schönheit, die Berührung, die Erotik, die Vergänglichkeit, der Tod münden: den Tanz.
Die kurzen Geschichten, die Sarah Chase so klar und unprätentiös erzählt, handeln vom Tanzen. Die erste Bewegung, die sie - auf dem Boden liegend - ausführt, ist eine Armstudie, ein Schwanenhals, der sanft kreist. Die reduzierten Bewegungen brechen das Pathos der Musik. Vincent Dunoyer beginnt mit einem weichen schwingengleichen Heben und Senken der Arme im Sitzen. Hoghe hat mit ruhigen Armhebungen im Stehen das Stück eröffnet. Es sind wie immer die einfachen, puristischen, unvirtuosen Bewegungen, die Hoghe interessieren. Aus denen dann so innige Momente entstehen wie der Schieber, den er mit Dunoyer tanzt, indem sich beide wechselseitig an den nach außen gestülpten Hosentaschen des anderen halten. Jede Bewegung eröffnet eine neue Welt, dehnt sich aus in die Zeit. Man sieht die Zeit mit dem Sand, der durch die Finger rinnt, vergehen. Der Sand deckt Fotos zu. Dunoyer holt sie behutsam wieder heraus. Die Leerstellen, die nun als schwarze Rechtecke im weißen Sandkreis das Licht verschlucken, füllen die drei wieder mit Sand. Sie sitzen mit dem Rücken zum Publikum, jeder greift in eine Plastiktüte und läßt den Sand aus der Hand gleiten. Verlust und Neubeginn. Rettung im Verschwinden. Sehnsucht. Über dieser Aktion verdämmert unendlich langsam das Licht.
Katja Schneider

©Katja Schneider
tanzdrama Nr. 63, 2002