"Le Sacre du printemps"
Wie Raimund Hoghe auf Strawinsky antwortet und das Opfer-Ritual dem Theater ganz und gar unskandalös zurückschenkt
Gerald Siegmund
ballet-tanz Nr. 3/2004


"It's all about sex", soll Leonard Bernstein jungen Musikern bei der Einstudierung von Strawinskys "Le sacre du printemps" den Gehalt der Musik erklärt haben. Das ist sicher nicht der schlechteste Zugang zu den vertrackten, insistierenden Rhythmen und dynamisch abschwellenden Klanggewittern, die der Exil-Russe Igor Strawinsky 1911 in Genf zu Papier brachte. Zumal der Stoff für das "Sacre", den Strawinsky zusammen mit Nikolai Rjorich entwickelte, auf Szenen aus dem heidnischen Russland zurückgreift. Ein Mädchen soll der Erde geopfert werden, um die Götter milde zu stimmen, damit sie im Frühjahr die Fruchtbarkeit der Scholle garantieren. Auf die Anbetung der Erde folgt die Suche nach einem Mädchen, das sich zu Tode tanzen soll, um die Gemeinschaft vor einem potentiellen Auseinanderbrechen zu bewahren. Diejenige, die aus dem Körper der Gemeinschaft ausbricht, in dem sie zu Boden stürzt, wird zum heiligen Opfer, über dem sich der Körper der Gemeinschaft wieder schließen kann. Der Religionswissenschaftler René Girard hat diesen Vorgang als Ableitung von zerstörerischer Gewalt innerhalb einer Gemeinschaft gedeutet, die durch das Opfer abgeführt wird.

Der Rückgriff auf vorchristliche Rituale oder andere, sogenannte "primitive" Formen von Kunst, war in der Moderne gang und gebe. Er diente der Erneuerung der Kunst, um sie aus ihrer in Dekadenz erstarrten Selbstbezüglichkeit zu befreien. Davon kann beim "Sacre" nicht mehr die Rede sein. Sowohl Strawinskys Musik als auch Waslaw Nijinskys Choreographie sorgten 1913 bei der Uraufführung im Pariser Théâtre des Champs-Elysées für den wohl größten Skandal in der Tanzgeschichte. Nijinsky und Strawinsky holen den verdrängten Gewaltakt, der der Konstitution von Ordnung und Gesetz zugrunde liegt, auf die Bühne zurück. Mit dem Stampfen, Schleifen, Stürzen und Zittern der Tänzer-Formationen dringt auch eine andere Vorstellung von Tanz auf die Bühne als es das klassische Ballett bis dato vorgesehen hatte. Damit einher geht selbstredend eine andere Art der Körperlichkeit, die allem ätherischen, leichten abschwört, um stattdessen an die Masse des Körpers zu erinnern, der von Triebregungen wie Lust und Aggression beherrscht wird. Der Trieb wird nicht sublimiert, sondern ihm wird plötzlich Raum gegeben. "It's all about sex", meinte Bernstein, und der ist schließlich nicht immer so rein wie es uns die Prinzessinnen des klassisch-romantischen Balletts weiss machen wollten.

Vom Impressario der Ballets Russes, Serge Diagliew, genau kalkuliert, fand die Uraufführung an just dem selben Tag, dem 29. Mai, statt, an dem ein Jahr zuvor Nijinskys Erstlingschoreographie "Nachmittag eines Fauns", für Aufruhr im Publikum sorgte. In der Choreographie des "Sacre", wie sie von Millicent Hodson und Kenneth Archer 1987 für das Joffrey Ballet rekonstruiert wurde, sind Spuren des Fauns, der kurzerhand das Tuch einer Nymphe zum Fetisch erklärt und sich darauf einen runter holt, unschwer zu erkennen. Die Ausrichtung der Tänzer und Tänzerinnen im Profil, die ihnen, einem ägyptischen Relief gleich, den Raum nimmt, ist ebenso Teil der Choreographie wie das schillernde changieren ihrer individuelle gestalteten Kostüme mit Rjorichs farbigem Hintergrund-Tablaux im ersten Bild.

In "Le sacre du printemps" benutzt Nijinsky die Vorlage eines Rituals, um damit im symbolischen Raum des Theaters Verdrängtes zur Sprache zu bringen. Der Repräsentationsraum Bühne wird zum Ort der Auseinandersetzung zwischen den Regeln, die dort gelten und die immer auch die Regeln einer Gesellschaft sind, und dem subjektiven Imaginären der Künstler, das in die Gesellschaft integriert werden soll. Dass ihre Impulse und Vorstellungen am symbolischen Ort der Repräsentation verhandelt werden - darin liegt der emanzipatorische Gehalt von Theater. Es macht Dinge bewusst, sagbar und damit auch ein Stück weit handhabbar.

Dennoch ist das "Sacre" mit seiner Vorliebe für Kreisformen und geraden Linienführungen ein abstraktes Kunststück und eben kein Ritual. Rituale basieren auf dem religiösen Glauben einer Gesellschaft, die die einzelnen Elemente und Akte, die zur rituellen Zeremonie gehören, unhinterfragt anerkennt. Die Mitglieder einer Gemeinschaft akzeptieren die rituelle Handlung und glauben an ihren Ausgang. Das Ritual braucht Spezialisten wie Priester, die von der Gemeinschaft das Mandat erhalten haben, in Namen aller zu sprechen und zu handeln, um Veränderungen in der Gemeinschaft herbeizuführen. In unseren sekularisierten Gesellschaften, wie sie sich seit der Renaissance entwickelt haben, gehören Religion und Kunst zwei verschiedenen Sphären an. Dinge, die im Theater verhandelt werden, sind ästhetische Phänomene, keine rituellen. Dem liegt die Zweiteilung der Theater in Bühne und Zuschauerraum zugrunde - zumindest seitdem der tanzende Chor der griechischen Antike als Mittler und Bindeglied darin getilgt wurde. Im Theater begegnen wir Dingen, die unser Erfahrungs- und Teilnahmebereitschaft ebenso wie unserer Urteilskraft von ferne dargeboten werden. Das Ritual hinterfragt das Gesetz nicht. Kunst hat mit Zweifeln zu tun, weil sie keine zeremonielle sondern eine reflexive Praxis ist, die festgefahrene Bedeutungen für die Dauer der Aufführung suspendiert.

Der Düsseldorfer Künstler und Choreograph Raimund Hoghe scheint mit jedem seiner Stücke die Verbindung zum Ritual neu zu knüpfen. Hoghes akkurater Umgang mit Gegenständen auf der Bühne erinnert in der Tat an zeremonielle Verrichtungen, bei denen kein Schritt ausgelassen werden darf, soll der Zauber funktionieren. Heraufbeschwört werden dabei Erinnerungen an die 40er, 50er oder 60er Jahre, an die Opfer der Geschichte - sei es der jüdische Tenor Joseph Schmidt in "Meinwärts" oder Flüchtlinge und Asylbewerber in "Lettere Amorose". Doch während bei einem Ritual der Vollzug auf der Realpräsenz der Götter basiert, basieren die Stücke Hoghes gerade auf deren Gegenteil: der Abwesenheit der Menschen, an die erinnert wird. In einem Ritual wie einem Fußballspiel oder einem Rockkonzert geht es um das Herstellen einer ungeteilten Gegenwart. Die Gegenwart, in der sich Hoghes Kunst vollzieht, ist jedoch nur da, um uns die Abwesenheit der Menschen und Dinge näher zu bringen. Hoghe inszeniert Abwesenheit. Indem er das tut, bricht er mit dem Ritual. Er macht uns die jüdisch-christliche Vorstellung vom Künstler als einem Stellvertreter bewusst, und kündigt damit wie Nijinskys "Sacre" das Stillschweigen über die Grundlagen unserer Kultur auf. Weil alle Körper aufgrund der Erbsünde aus dem Stand der Gnade gefallen sind, brauchen wir jemanden - brauchen wir einen Körper - der den Körper mit Blick auf die Seele transzendiert. Dies macht der Tänzer. Noch für Paul Valéry, Priester-Poet des Modernismus, ist es die Seele, die tanzt, und nicht der Körper. Raimund Hoghe ist ein solcher jüdisch-christlicher Stellvertreter. Und er steht ein für uns mit einem Körper, der mit seinem Buckel allerdings im traditionellen Sinn gar nicht für uns einstehen darf. Auch Hoghes Körper bricht wie der des Frühlingsopfers aus dem Körper der Gemeinschaft aus.

Sein Körper unterbricht die Vorstellung der schönen, tanzenden Seele. Er unterbricht die Idee von der Präsenz der Dinge, an die erinnert wird. Stattdessen legt er auf der leeren Bühne seinen Körper auf den Verlust und die Wunden unserer Gesellschaft. Vergleichbar mit dem Opfer im "Sacre" ist er der Sündenbock, der sich für uns opfert, ein Sündenbock jedoch, der sich weigert, geopfert zu werden. Nijinskys Choreographie endet mit dem Opfer, das von einer Reihe von Männern hochgehoben wird. Da bleibt es dann, für alle sichtbar ohne transformiert zu werden, ohne Abgang, während der Vorhang fällt. Auch Raimund Hoghe bleibt. Er weigert sich abzugehen, von dem Ort des Tanzes, von dem sein Körper traditioneller Weise ausgeschlossen bleibt. Die insistierende und zum Teil durchaus auch bewusst kalkulierte enervierende Dauer seiner Stücke rührt daher. Hoghe bricht mit dem Ritual, indem er viele kleine Rituale aneinanderreiht. Ob die Gesten der Erinnerung fruchten, hängt von jedem einzelnen ab. Erinnern läst sich nicht verordnen. Hoghes Stücke sind keine Vergangenheitsbewältigung. Sie halten die Wunden offen, weil sie nicht wie das Ritual neuen, abschließenden Sinn stiften, sondern auf der nie zu füllenden Abwesenheit im Bühnenraum beharren.

Wie Nijinskys "Le sacre du printemps" ist auch Raimund Hoghes Theater ein Nachdenken über die rituelle Funktion von Theater. Indem er auf rituelle Strukturen zurückgreift, gelingt es ihm, in den symbolischen Repräsentationsraum Theater sein individuelles Begehren zu integrieren und dadurch sagbar zu machen. Er gibt seinem Imaginären einen Raum, den er mit uns teilt. Darin erscheint das klassische Ballett in zahleichen Anspielungen als Sehnsuchtsraum, als ein Raum, in dem sein Körper dem Ideal von "Schwanensee" zustreben kann, in dem die ehemalige Béjart-Ballerina Ornella Balestra in Hoghes "Tanzgeschichten" mit nur wenigen Schritten und Gesten dessen Verlust spiegeln kann.

Wen wundert es also, dass sich Hoghe für sein neues Stück "Le sacre du printemps" angenommen hat? "Sacre - The Rite of Spring" wurde auf der großen Bühne des Kaaitheaters in Brüssel uraufgeführt, deren Leere die Choreographie aufs schönste unterstreicht. In der rechten hinteren Ecke steht eine grüne Pflanze, in der linken Ecke eine Wasserschale, die später nach vorne geholt wird, damit Hoghe und sein Partner, der junge Lorenzo De Brabandere, Hände und Gesicht hineintauchen können. Hoghe rahmt das Stück mit Strawinskys Stimme, die sich zu Beginn und zum Schluss an die Entstehungszeit der Partitur erinnert. Ansonsten folgt er ganz Leonard Bernsteins Aufnahme der Musik, dessen "It's all about sex" er sich für sein "Sacre" zu Herzen genommen hat. Zusammen mit De Brabandere hat er eine Choreographie der Annäherung und der Abstoßung entwickelt, die in dramatischen Höhepunkten der Dynamik der Musik aufs schönste folgt. Mit wild auffahrenden kreisenden Armen, die immer wieder auf seine Oberschenkel schlagen, steht Hoghe auf der Mittelachse der Bühne, bevor De Brabandere zum Spurt ansetzt und in genau ausgetüftelten Linien über die Bühne rast.

Zum ersten Mal ist Hoghe dabei von seiner Lieddramaturgie abgewichen, was die Gesamtheit der Choreographie in ihrer Entwicklung stärker betont. Sein "Sacre" vibriert und pulsiert, es ist ein in mehrfacher Hinsicht Begehren des Jungen, dem sich Hoghe allerdings nie anzüglich nähert. So entsteht eine selten gesehene Zärtlichkeit zwischen zwei Männern, die nie anstößig oder peinlich wird. Hoghe missachtet die Regeln des symbolischen Ortes "Theater" nicht, sondern öffnet ihn für sein Begehren, das dort selten einen Ort findet. Die Integration ist geglückt.


©Gerald Siegmund