Texte

Entdeckungen und Farbenfluss

zu den Arbeiten von Adolphe Lechtenberg

„Ohne innere Entdeckungen gibt es keine äußeren Entdeckungen“, sagt Adolphe Lechtenberg. Man kann das als Kernsatz zu seinen Arbeiten betrachten. Die Herausforderung, die gewohnte Umgebung zu verlassen und sich auf Neues improvisierend einzulassen, fordert vom Reisenden, genauer hinzuschauen, Unterscheidungen zu treffen und neue Verhältnisse und Gegebenheiten auszuloten. Unterwegs zu sein, ist stets Anlass für Adolphe Lechtenbergs innere Entdeckungen  gewesen. Eine seiner ersten Reisen führte ihn von Düsseldorf, wo er als Meisterschüler bei Erwin Heerich die Kunstakademie absolviert hat, auf den Spuren der Freskomalerei der Renaissance durch Italien. Wieder zu Hause angekommen, experimentierte er mit  großformatigen, Raum gestaltenden Bildern. In Nordspanien sah er Arbeiten von El Greco und Goya, besuchte die USA, später auch Lateinamerika, fuhr mit einem Schiff durch den Panamakanal und bereiste Havanna in Kuba. Mit Ausstellungen, sowohl in Deutschland als auch an den Orten, zu denen ihn seine Reisen geführt hatten, dokumentierte er seine künstlerischen Projekte. So waren Arbeiten von Adolphe Lechtenberg u.a. in der Düsseldorfer Kunsthalle, im Museum Bochum, im Goslarer Mönchehaus-Museum für moderne Kunst, im Ludwig-Forum Aachen, in der Zeche Zollverein in Essen und im Neuen Kunstverein Berlin zu sehen, gleichzeitig aber auch im Santa Monica Museum of Modern Art in Los Angeles und an renommierten Kunstorten in Warschau, Istanbul, Paris, Havanna, Seoul und im spanischen Santander.

Beim Reisen sind die Sinne durch die Begegnung mit dem Fremden geschärft, Gefühle werden als existentieller wahrgenommen, weil sie in ungewohnter Umgebung erfahren werden. Das, was man mit „Eindrücke verarbeiten“ umschreibt, tritt klarer hervor. Dieses Zusammenspiel von außen und innen, das im Menschen sein Echo als Erlebnis findet, ist das zentrale Thema, mit dem sich Adolphe Lechtenberg anfänglich gegenständlich, jetzt in abstrakter Form in seinem Werk beschäftigt. Seine Bilder sind also nicht als konkrete Kunst zu verstehen, die sich in der Diskussion eigengesetzlicher Problematiken wie etwa Farbe, Komposition und Auftrag erschöpft, sondern sie sind Innenansichten, berichten etwas darüber, wie es zu inneren Entdeckungen kommt. Adolphe Lechtenbergs Arbeiten sind keineswegs realistische Abbilder, aber sie sind Ergebnisse eines Streifzuges durch die persönlich erlebte Realität, machen die Innerlichkeit äußerer Eindrücke sichtbar.

Adolphe Lechtenberg schildert diese inneren Entdeckungen nicht als Momente blitzartiger Erkenntnis, sondern als Prozesse, die sich langsam und stetig vollziehen. Seine Arbeiten sind Wachstumsbilder. Bisweilen ist ein Liniengewirr sichtbar. Ein Strich richtet tentakelnd seine Aufmerksamkeit in den Raum, dreht und kräuselt sich wie der junge Trieb einer Pflanze. Manchmal findet er Halt, bildet Knoten oder stellt fest, dass doch noch an anderer Stelle die Suche fortzusetzen ist. Die Linie bei Adolphe Lechtenberg ist bewegt, hat einen eigenen immer wiederkehrenden Rhythmus, den des Suchens und des Irrens im Sinne des Naturgesetzes von  „trial and error“. Die Linie in ihrer Mäanderform suggeriert Dauer, Veränderung und Expansion. Es ist eine Erforschung, die nicht endet, sich lediglich in wechselnden Zuständen offenbart.

Auch Adolphe Lechtenbergs Bilder markieren Stationen in einem sich konstant in Entwicklung befindlichen Werk. Immer gab es Teile und Partien in seinen Bilder, die ihn besonders interessierten und die er begann weiter zu bearbeiten, so löste er in den 80er Jahre seine expressiven, figürlichen Malereien stellenweise in abstrakte Farbflächen auf und experimentierte damit, schrittweise den Raum, der als farbige Gefühlslandschaft den Figuren hinterlegt war, zu demontieren. Schließlich erweiterte er seine Arbeiten auch in die dritte  Dimension. Es tauchten nun isolierte plastische Bildfragmente wie Bruchstücke von Figur und Raum neben der eigentlichen Bildfläche auf. Mit der Zersplitterung des Bildes, ging auch das homogene Bild des Menschen verloren. An seine Stelle trat das Fragmentarische: Individualität als Produkt des Geflechts von Beziehung und Eindrücken. Fäden und Stangen stellten dabei Verbindungen zwischen den verschiedenen Bildelementen her als sichtbare Bahnen, die das Wechselspiel zwischen innen und außen webt. Bruchstücke der Bildfläche formierten sich sogar manchmal an Fäden hängend zu eigenständigen, marionettenartigen Wesen. Die Gratwanderung zwischen Bild und Plastik setzte Adolphe Lechtenberg auch mit seinen fast gleichzeitig entstehenden Klappbildern fort, die nach dem Prinzip alter Kinderbücher angelegt sind. Die Malerei eroberte auch hier die dritte Dimension, indem die Bildfläche beim Ausklappen zu einem Bühnenraum wird, die herausspringenden Formen und Figuren sich vom illusionistischen Bildraum emanzipieren und  in den realen Raum eintreten.

Konsequent wagte Adolph Lechtenberg mit seinem Bühnenbildprojekt für das „Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel“ eine räumliche Umsetzung seiner bildnerischen Ideen. Der Bühnenraum wurde zum dämmrigen Körperinneren mit allen wichtigen Organen gestaltet – etwa so, als wäre man wie in einer Science Fiction an Bord eines winzigen U-Boots in die Kanäle des Körperinneren eingetaucht. Ein reales Fadensystem durchzog analog zu Adern und Nervenbahnen die  Inszenierung. 

Es sind immer wieder Fäden, Stangen oder Schnüre, die die einzelnen Bildteile der mehrdimensionalen Arbeiten von Adolphe Lechtenberg miteinander verbinden. Sie verdrahten  die einzelnen Fragmente untereinander und lassen so etwas wie einen komplexen Organismus entstehen. Assoziationen zum menschlichen Körper, vor allem aber zu seiner Schaltzentrale, dem Gehirn,  stellen sich ein.  Zunächst in den Zeichnungen, dann auch in seinen Bildern, greift  Adolphe Lechtenberg das Element der Verflechtung wieder auf. Nun ist es die sich  windende Linie, der suchende Strich. Aber es ist nicht mehr nur Form, sondern auch Bewegung in der Zeit. Das Auge folgt – wie etwa bei dem hier ausgestellten Werk „Geflecht“ - dem labyrinthischen Schlängeln und Krakeln des Strichs. Man denkt an die Windungen im menschlichen Gehirn, gleichzeitig aber auch an Lötschleifen auf Computerplatinen. Die Bewegung, die wir mit dem Auge durch die Bahnen verfolgen, ist so etwas wie der Impuls, der Wahrnehmung ermöglicht, mit dem Reiz, zu reisen. Die Prozesshaftigkeit der Bildfindung ist durch diese Rhythmisierung dokumentarisch in das Bild eingeschrieben, sie ist die Spur, die zum eigentlichen Bild führt und es gleichzeitig bedeutet.

Der krakelnde Duktus ist dabei gleichsam Sinnbild für die Dauer des immer gleichen, aber eben stets doch abweichenden Vorgangs, die Flüchtigkeit der allgegenwärtigen Eindrücke mit den Mitteln der Erinnerung und des Traumes außer Kraft zu setzen.
Die Linie ist nur ein Gestaltungselement, aber für die Farbe gelten ähnliche Prinzipien. Sie, die zuvor Figur und Raum illusionistisch abbildete, bewegt sich nun frei auf der Bildfläche. Adolphe Lechtenberg variiert das Spiel mit der Farbmaterie nach den Regeln von Verdichtung und Auflockerung, und lässt aus dem steten Farbfluss Form entstehen und sich wieder auflösen. Zu einigen Formationen lassen sich Herzen oder Flügel assoziieren, aber es ist nicht von Bedeutung, welche Formen es sind, wichtiger ist die Art ihrer Beschaffenheit. Ihrem Charakter nach sind es häufig Dopplungen, Paare. Adolphe Lechtenberg stellt damit Spannungsverhältnis und Beziehungen dar, und findet damit ein malerisches Pendant zu realen Begegnungen, sei es die Spannung, die sich zwischen Menschen aufbaut oder wie ein aktuelles Erlebnis mit der Erinnerung vermischt wird, immer referiert er damit auf den Modus von Befindlichkeiten als momentanem Ergebnis der Verschmelzung von äußerer und innerer Welt. Farbe ist dabei nicht Form bildendes Moment im klassischen Sinne, ist nicht an Gegenstände oder Abbilder geknüpft, sondern es sind gleitende farbliche Übergänge und diffuse Mischungen möglich, aus denen räumliche Paradoxien oder Umschlagspunkte als Analogien zu ebenso widersprüchlichen Empfindungen, die keine direkte Entsprechung in der dinglichen Wirklichkeit besitzen, erwachsen.

Adolphe Lechtenberg erzeugt atmosphärische, poetische Räume. Seine  Farbwahl – bei der er eine große Kontinuität beweist und die daher schon fast so etwas wie Symbolcharakter besitzt – entspringt mehr der Empfindung als der Erfahrung. Das Wissen um die Bildkomposition alter Meister oder alltäglicher Gebrauchsgraphik ist spürbar, denn seine Bilder sind bei aller freien Variation ausbalanciert und formal ausgeglichen. Es gibt häufig kompositorische Schwerpunkte, eine Art Einlassstelle für das Auge. Die formale Festschreibung als Bild ist aber nicht zu verwechseln mit einer harmonischen Inhaltlichkeit, es werden keine unveränderlichen Ergebnisse präsentiert, sondern analog zum bewegten Fluss der Farbe labile, vorläufige, vorübergehende, eben akute Gestimmtheiten. Die eigene Aufmerksamkeit gegenüber diesen Phänomenen als Folge der alltäglichen, aber immer noch undurchschaubaren Begegnung mit der Welt, die an den Körper als Sensorium und Katalysator gebunden ist, macht innere Entdeckungen möglich.

© Jutta Saum,2004