Texte

POPOL VUH              
Für Adolphe Lechtenberg
 
                                                                             Et les oiseaux jouaient à chat perché
                                                                             En criant des vieux airs créoles
                                                                                                                         Boris Vian
 
   Der Weltenschöpfer hat sich den Menschen ausgedacht, damit das Universum nicht so leer ist. Oder umgekehrt: Der Mensch hat sich den Weltenschöpfer ausgedacht, damit das Universum nicht so leer ist. Und vielleicht ist beides dasselbe. Denn ein Gott, der sich nicht selbst genug ist und zu seiner Unterhaltung Wesen schaffen müsste, kann ja kaum vollkommen sein. Der Mensch aber, der sich das Universum nicht erklären kann und nach wie vor beeindruckt davor steht, sucht nach einer Erklärung: denn ganz offensichtlich ist da mehr als er selbst. Und dieses Mehr muss ja doch einen Urheber haben, einen Plan, einen Sinn. Denn ist es nur da, und so da, und zu sonst nichts: wozu dann der Mensch, der mit Schrecken seinen geringen Belang darin zu Kenntnis nehmen muss? Sieht der Mensch, wenn er sich ins Spirituelle versenkt, nicht doch nur den Spiegel seiner eigenen schöpferischen Anlagen, die er unbestritten aufweist. Wenn er diese auch durchaus mit anderen teilt: gesangliche Erfindung nicht nur mit den Vögeln, zeichnerische, malerische mit den Primaten. Und wie machen sich wohl die Kreationen der Wesen aus, die weder über Stimmbänder noch über Werkzeughände verfügen. Bemerkt der Mensch sie überhaupt, wo er doch nur mit den eigenen Hervorbringungen zu vergleichen imstande ist: dem, was er für Musik, Sprach- und Bildkunst, für Gedanken hält. Und das doch in so vielem abhängig ist von seiner Herkunft, Erziehung, Sozialisation und Kultur. Das sich in der eigenen Spezies mit genügend Individuen konfrontiert sehen darf, die stumpf, verbildet, verbohrt genug sind, den Hervorbringungen des anderen je mit Argwohn, Ablehnung  und Gewalt zu begegnen, wo sie ihrer Herkunft, Erziehung, Sozialisation und Kultur nicht entsprechen. Stets fand und findet sich ein Schöpfergott, der dies legitimiert. Und mit welcher Inbrunst hat von je her der Mensch die Götterbilder der Anderen zerhauen.
  
   Nun mag man meinen, dem Künstler als Schöpfer braucht das nichts auszumachen, er ist sein eigener Creator Spiritus, er schafft seine Welt, nach seinem Abbild, seinem Gutdünken. Und eignet sie sich auf diese Weise an. Aber selbst in unserer aufgeklärten Gesellschaft hat es bis vor gar nicht allzu langer Zeit Regeln gegeben, materielle, aesthetische, sittliche, religiöse, nach denen sich Kunst messen lassen musste. Und nach wie vor gemessen wird: Was ein Joseph Beuys vor nunmehr einem halben Menschenleben schuf, ist immer noch dazu angetan, Anstoß zu erregen. Und wer heute andererleuts Propheten darstellt, riskiert Morddrohungen. Weder ist der Inhalt der Kunst wirklich frei, noch deren Machart unreglementiert. Dabei wäre ihre Maßgabe doch allein, dass ihre Form ihrem Ausdruckswollen genügen müsse, damit sie ihren Inhalt transportierte. Und nicht in Formlosigkeit entglitte, so dass sich nicht entscheiden ließe: ist das jetzt Bild – oder ist es nur pittoresk. Zeigt es Gelingen, ist es nur glücklicher Zufall – oder nicht einmal das. Nicht Kunst, sondern Versehen. Fast nichts auf der Welt ist so konzise zufällig wie die Bilder eines Jackson Pollock. Denn das ist die andere Seite der Maßgabe: die Form verlangt nach Beherrschung, sonst entgleitet sie ins Ungenügen. Das mag für den Augenblick wirken, verliert sich in der wiederholten Betrachtung jedoch schnell in Belanglosigkeit, trägt nicht anhaltend. Das Eigenartige behält seinen Reiz auf die Dauer, das Beliebige nie. Es scheint, was uns an den Schöpfungen der Anderen fesselt, ist das, was wir selbst gerne ausdrücken mögen, es aber allerbestenfalls auf andere Weise vermöchten. Und darin ist uns dieser andere Kosmos nah - und bleibt uns fern und rätselhaft zugleich. Nur das Unerklärliche bleibt interessant.
 
   Adolphe Lechtenberg ist als Künstler ein Kosmopolit. Klar zwar in seinem Herkommen, aber denkbar weit in der Öffnung seines Horizontes. Er hat sich niemals in seinen Ausdrucksmitteln beschränken lassen oder beschränken wollen. Seine künstlerische Prägung hat er in der – durchaus wilden – figurativen Malerei der siebziger und achtziger Jahre erfahren. Wiewohl aber Erwin Heerich, dessen Meisterschüler er gewesen ist, den denkbar extremsten Gegenpol zu dieser Bewegung dargestellt hat. So sind denn die frühen Malereien gewiss wild, dieser Wildheit gegenüber aber erstaunlicherweise von erheblicher Formstrenge. Der laute Krawall, der den Neuen Wilden Mode und Markenzeichen war, geht ihnen völlig ab. Tatsächlich sind die Figuren, Menschen, Tiere, schon damals eher von archaischer, stiller Wucht, denn dass sie tumultarisch wären. Und ihre Hinterfangung ist die Urtümlichkeit der Mythe. Wucht aber, nicht Wuchtigkeit und im Mythologischen weit mehr kollektive Gemeinsamkeit, als dass es je ethnologische Zitierlust wäre. Tatsächlich ist sein Spielraum nicht lokal begrenzt, schon früh hat er ferne Länder bereist, gemeinsame Kunstprojekte im In- und Ausland ausgerichtet und sich auf je andere Ausdrucksmöglichkeiten und Kulturen eingelassen. Ohne darum seine Identität oder Orientierung zu verlieren. Vielmehr im Unvertrauten sich wiederfindend, wo die  Grundbefindlichkeiten der Existenz dieselben sind. Ohne darum auch die Widersprüchlichkeiten dieser Existenz aufheben zu müssen. Weder in der Wirklichkeit noch in der Kunst. Und so können sich in seinen Arbeiten Fläche und Raum queren, Figürlichkeit und Entgegenständlichung, Leuchtkraft und Stofflichkeit, Klang und Ernüchterung. Können bei- und einander entgegenstehen, sich gegenseitig steigern und sich infrage stellen zugleich. Und es aushalten, dem Betrachter einfache und eingängige Angebote schuldig zu bleiben. Ihre eigentümliche Überzeugungskraft beziehen sie aus ihrer Ernsthaftigkeit, die noch im circensischsten Farbenrausch spürbar bleibt. Und im Fehlen jeder Gefälligkeit.
 
   Die Themen sind von Anbeginn: Menschen, der einsame, das Paar, die Entgegnung zum Tierwesen, Spiegelungen, zuweilen Gruppen, zuweilen Geflechte. Räume, als inwendige der Maskerade, als Beherbergung in Refugium und Versteck. Als Licht- und Farbraum, als Auflösung in vollkommen unstoffliche Tiefen. Solche von Planetenwanderung und Fernen. Solche der Kosmologie. Unerreichbar nahe wie Gestirne. Hatten nicht die Mythen aller Welt ihnen Namen und Person gegeben, um sie heranzuholen?
 
   Es nimmt nicht weiter Wunder, dass die Koordinaten der Motive und Motivkreise einen ebenso offenen und unverstellten Einsatz der Mittel und Gattungen evozieren. So schlägt sich Lechtenbergs Arbeit nicht nur in der Bildkunst wieder, und innerhalb dieser überspringt sie souveränerweise die Grenzen zwischen Bild und Raum, Objekt und Environment, erinnert sei nur an die mehr als ein Vierteljahrhundert währende Verbindung zum sich zuweilen konkretisierenden Paul-Pozozza-Museum, sondern auch im Theatralischen und in gelegentlichen Erzählungen. Wiewohl eine gewisse Erzählhaltung den Bildern durchaus zueigen ist. Nur dass sie sich so ohne Weiteres nicht mitteilen. Auch die figurativen Arbeiten geben keine Geschichte wieder, sondern zeigen Situationen: von Ausgesetztheit, von Vereinsamen und Begegnung, von verhaltener Vertrautheit, von Wanderschaften. Rätselhaft bleiben sie, unnachvollziehbar aber nur dem Unempfindlichen. Zuweilen ist die Figur nur noch in einer erkennbaren Hinterlassenschaft präsent. Als Zeichen. Imaginäre und solche der Imagination.  Zunehmend treten die Gestalten zurück hinter Konjunktionen, hinter die Verbindungslinien zwischen Nadir und Zenith, hinter Kometenbahnen. Hinter die Bewegungen des Kosmos, in denen der Mensch die eigenen gespiegelt zu sehen glaubt. Und fährt er doch vielleicht in seiner Existenz selbst nur ihren Bahnen im Kleinen nach. Diesen Bildern gelingt der Sprung hinweg über die Grenzen der Dimensionen von Menschenwelt und Kosmos. Und darin gelingt es ihnen, beider Wesen Gestalt zu geben.
 
   Nicht wenige der Arbeiten geben den orthodoxen Umriss auf und begrenzen sich unregelmäßig. Ihre Malhaut selbst zeigt sich nicht selten aufgeworfen als pastoses Relief, mehr noch zuweilen als Schichtung von Malebenen, erhebt sich dann, verbindet sich mit anderen Malgründen in den Raum hinein. In letzter Konsequenz in 39 Teile als variable Gruppe bemalter Farbträger, die sich den Gegebenheiten ihres Erscheinungsortes anzupassen vermögen. Weit über die Erkenntnis hinaus, dass jedes Bild in je anderen Räumen verändert wirkt: und wenn es dasselbe auch ist, so doch nicht mehr das Gleiche. Auch in der Fläche ist Raum, wo sich etwa Farbgewusel konkretisiert, zum Beginn einer Spirale gerinnt, zum Labyrinth. Andernorts erscheinen Farbfelder als Schwingen, als Flügel, auch als solche von Toren, die in andere Räume und Weiten sich zu öffnen vermögen, so dass einen als Betrachter unwillkürlich die Neugier treibt, zu erfahren, was sich dahinter verbirgt. Kreuze, wiewohl weit weniger als religiöses Symbol, denn als Verortung und beinahe, als sei die Bildfläche aufgefaltet, als sähe man nun in den Raum, der jenseits des verschlossenen Kreuzkuverts leuchtete: Terra infinita incognita, Wege in die Unendlichkeit.
 
   Mit den letzten Jahren hat sich das Arsenal der Formen zunehmend aufs Geometrische konzentriert, als Dichotomie annährend rechtwinkliger Felder, Kreisformen und Ovale. Auch ihre Dynamisierungen. Ihr Aufeinanderfließen. Und in dieser Verstrengung liegt durchaus ein Gang in die Universalität. Nicht bildhaft zwar im Sinne von Gegenständlichkeit, aber mitteilsam. War der Duktus der frühen Arbeiten gestisch, ja zuweilen tachistisch, so hat sich die Form nun quasi kondensiert. Freilich nicht in dem Sinne konstruktivistischer Strenge mit ihrer Abgezirkeltheit und auf Grundtöne reduzierten Farbskala. Sondern strahlend und aufgeladen in ihren Valeurs. Sind auch hier: Räume und Flucht, Brücke, Drei Erdzonen, Himmel und Erde, voll tellurischer Kraft. Und da, wo sie das Organische berufen: Paarbildung, Frucht, schiere Trächtigkeit.
 
   Es ist die Tracht der Farbe. Denn von der Farbe kommt und zu der Farbe strebt am Ende alle Malerei. Und das Erstaunen darüber, was sie auszulösen vermag, ist von jeher ihr Antrieb gewesen. Wenn die jüngeren dieser Bilder den eruptiven Brodem, die rhythmische Wildheit ihrer Vorgänger für den Augenblick auch hinter sich gelassen haben mögen, so ist die Pigmentsattheit der Acrylmalereien, mehr aber noch der Pastelle ins Äußerste gesteigert. In Klänge und Konsonanzen geradezu bengalischer Leuchtkraft, Schönheit und Flamboyanz. So dass sich die Bildfläche selber als Raum auftut und strahlt. Um ganz aufzugehen im Licht.
 Da schließt sich der Kreis der Schöpfung. Und hebt in einem neuen Zyklus an.
 
 
 
 
Gerhard van der Grinten
6./7.I.2011